NATO wird 75 – Kein einfaches Jubiläum | BÜTIS WOCHE #277

Diese Woche, am 4. April 2024, wird die NATO 75 Jahre alt. Die NATO-AußenministerInnen, die sich zu diesem Datum in Brüssel treffen, können sich aber offensichtlich nicht auf das feierliche Begehen eines ehrwürdigen Jahrestages konzentrieren. Vielmehr stehen sie vor der Frage, wie das Bündnis, „das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte“, es wohl überstehen könnte, wenn im November die Wählerinnen und Wähler der NATO-Vormacht USA Donald Trump zum zweiten Mal ins Präsidentenamt hieven sollten. 

Ich habe an anderer Stelle schon bestritten, dass die oft geforderte Anstrengung zum „Trump-proofing“ der Allianz und des transatlantischen Verhältnisses insgesamt wirklich in der Lage sein würde, uns gegen die zerstörerische Kraft des bösartigen Irren Donald Trump wetterfest zu machen. Ein Mann, der in einer Wahlkampfrede mehrfach bewusst und betont Migrantinnen und Migranten, die in die USA streben, als Tiere bezeichnet, der durch die wiederholte Rede von einem drohenden Blutbad, sollte er die Wahl nicht gewinnen, rhetorisch in Richtung gewaltsamer Auseinandersetzung treibt, ein solcher Mann würde sich durch Verträge, internationale Verpflichtungen, feste Zusagen und dergleichen mehr, nicht davon abhalten lassen, im Zweifel mit der Abrissbirne zu zerstören, was viele politische Generationen aufgebaut haben. 

Gewiss, wenn die Ukraine-Unterstützung in Zukunft durch die NATO koordiniert wird und nicht mehr durch die USA, dann kann ein Trump gegebenenfalls nicht die Koordinierung verweigern; aber was nützt die Koordinierung, wenn der mächtigste Verbündete nicht mehr helfen will und die kleineren Partner nicht ausreichend helfen können? 

Nach wie vor bin ich bereit zu wetten, dass Trump nicht noch einmal US-Präsident wird. Doch die Sorgen, die uns mit Bezug auf seine Person, die von ihm dominierte republikanische Partei der USA und die augenscheinlich von ungefähr der Hälfte der US-Bevölkerung geteilte Perspektive auf den Rest der Welt umtreiben, lassen sich damit nicht zur Seite schieben. In der konfrontativen, unwürdigen, rücksichtslos provozierenden, weitestgehend wertevergessenen, schamlosen Bewegung des Trumpismus artikuliert sich auf schwer erträgliche Weise eine fundamentale Verschiebung im transatlantischen Verhältnis, deren Ursache der Trumpismus nicht ist. 

Schon Barack Obama, der erste „pazifische“ Präsident der USA, hatte, selbstverständlich in viel rationalerer, gemäßigterer und gesitteterer Weise, auf die Verschiebung, die ich meine, hingewiesen. Obamas „pivot to Asia“ markierte den Wendepunkt. Hatte das transatlantische Verhältnis und die NATO als sein militärischer Kern seit dem Beginn des Kalten Krieges seine Kraft daraus geschöpft, dass die sicherheitspolitischen Interessen der europäischen Partner gegenüber der Sowjetunion und die Hegemonialinteressen der Supermacht USA in der Auseinandersetzung mit Moskau sich ideal deckten, so fallen in der Welt, wie sie sich heute darstellt, beide Perspektiven nicht mehr in eins. Europa, das zeigt die brutale Realität der russischen Großaggression gegen die Ukraine und gegen die Sicherheitsarchitektur auf unserem Kontinent insgesamt, braucht die Allianz, braucht die NATO weiterhin, ja sogar mehr noch als in der Endphase des Kalten Krieges. Denn Putins Regime ist kein Status-Quo-Bewahrer, wie die Sowjetunion zu der Zeit Breschnews, und schon gar keine Macht im Rückzug, wie zu Zeiten Gorbatschows, sondern ein revisionistischer Akteur, der von der Wiederherstellung imperialer Größe nicht nur träumt, vielmehr diese aktiv betreibt. 

Für den Hegemon USA dagegen ist Russland nicht mehr die entscheidende Herausforderung. Die kommt vielmehr aus China. Es war zwar überheblich von Obama, als er Russland eine Regionalmacht nannte, aber das Russland von heute hat nicht die Kraft, die USA ökonomisch, militärisch, politisch und kulturell so herauszufordern, wie China das tut. Dass in der republikanischen Partei rationalere Köpfe, als Trump einer ist, heute dafür plädieren, die Unterstützung der Ukraine einzuschränken oder ganz zurück zu fahren, um sich auf die große indopazifische Herausforderung konzentrieren zu können, hat darin seine Ursache. Präsident Biden und Leute seiner Administration wie Kurt Campbell haben versucht, die Kluft, die da aufzureißen droht, ideologisch zu überbrücken, indem sie die weltweiten Auseinandersetzungen unserer Zeit als Konflikt zwischen einem Lager der Demokratie und einem Lager des Autoritarismus beschrieben oder erklärten, dass Russlands Krieg nach Westen und Chinas Aggression vor allem im Osten zwei Seiten ein und desselben Theaters seien. Praktisch hat Präsident Biden in den letzten zwei Jahren durch seine unverzichtbare Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine in ihrem Selbstverteidigungskampf zu Europas Glück ein außerordentlich hohes Maß an Geschlossenheit der transatlantischen Allianz bewirkt. Doch die Hymnen, die seither auf die transatlantische Gemeinsamkeit gesungen werden, laufen Gefahr die tieferliegenden Sprengkräfte zu ignorieren. 

Die durchaus anzutreffende Vorstellung, die USA und Europa müssten sich in einer Art globaler Arbeitsteilung dafür entscheiden, dass Russland Europas Problem sei, währenddessen die USA sich auf die chinesische Herausforderung zu konzentrieren hätten, bietet meiner Meinung nach keine Basis dafür, ein Auseinanderleben zu verhindern. Wenigstens allerdings würde Europa sich unter diesem Blickwinkel nicht mehr davor drücken können, für die eigene Sicherheit selber die Hauptverantwortung zu übernehmen. Doch entscheidend für die Zukunft des transatlantischen Verhältnisses und für seine Transformation wird sein, ob beide Seiten sich über ihre jeweilige und möglicherweise sogar eine gemeinsame China-Politik verständigen können. Da ist der Weg noch weit. 

Über die Gefahren, die grundsätzlich von China ausgehen, herrscht zwischen Washington einerseits und Brüssel andererseits kaum eine Diskrepanz. Die systemische Rivalität sehen wir beide. Doch im Konkreten reagieren Europa und die USA durchaus unterschiedlich. Wir Europäer, die wir trotz mancher rhetorischer Fantasien zur Supermacht ungeeignet sind, thematisieren vor allem Chinas Untergraben der multilateralen Rechtsordnung. Die USA andererseits, seit Jahrzehnten Hegemonialmacht, konzentrieren sich auf die Bedrohung dieser Stellung durch Xi Jinpings Ambitionen. Gemeinsam ist uns, dass wir als Verteidiger auftreten, Verteidiger eines Status Quo, der übrigens nicht nur durch China, sondern insgesamt durch den Aufstieg des Globalen Südens ins Rutschen geraten ist. Indem wir jeweils zu verteidigen suchen, was wir vor allem zu verlieren fürchten, fällt uns nicht nur die Bewahrung der so lange erfolgreichen Zusammenarbeit schwer, wovon insbesondere die Handelspolitik, in der wir überhaupt nicht auf einen Nenner kommen, Kunde gibt, sondern wir versäumen es auch, eine politische Erzählung zu entwickeln, die über unseren jeweiligen Eigennutz hinweg geht. Und wir nehmen viel zu wenig wahr, wie sehr Chinas Hegemonialambitionen sich mehr und mehr darauf stützen, dass dort eine Perspektive entwickelt wird, die explizit dem Rest der Welt ein Angebot zu machen verspricht. 

Der NATO zum 75. Jahrestag alles Gute zu wünschen, in ihre Stabilität und Entwicklungsfähigkeit zu investieren, das ist das Eine. Gleichzeitig aber müssen wir eigentlich zugeben, dass die Allianzen, die wir für die Gestaltung der Zukunft brauchen, andere Partnerschaften einschließen müssen als im Rahmen der NATO gefasst werden können. Ginge es nur darum, die NATO durch ein-zwei-drei indopazifische Akteure zu ergänzen, dann könnte man ja auf den Gedanken verfallen, eben doch zur Idee der NATO als Weltpolizei zurück zu kehren. Ich hielte das für eine gefährliche Sackgasse. Wo wäre Indiens Platz in einem solchen Konzept, wo der Platz Indonesiens, der ASEAN-Gemeinschaft, der Platz Afrikas oder von Brasilien? Die USA behelfen sich aktuell ein bisschen mit minilateralen Konstruktionen: AUKUS, QUAD, Chips4Alliance, IPEF. Wir Europäer haben, so scheint mir, gerade erst angefangen uns mit der Frage zu befassen, wie eine künftige internationale Sicherheitsarchitektur aussehen könnte. Einstweilen schicken wir ab und zu ein paar Schiffe oder Flugzeuge auf Besuch in den Indopazifik. 

Die NATO war vor 75 Jahren zeitgemäß und visionär. Auch heute ist sie für uns Europäer unverzichtbar. Heute visionär zu sein erfordert mehr, als an der NATO festzuhalten.  


SONST NOCH

Vom 25. – 28.03 war ich mit einer Grünen Delegation in Taiwan. Vielfältige und hochrangige Termine mit über 60 GesprächspartnerInnen ermöglichten uns wertvolle Einsichten.

“Wir brauchen bei China-Fragen noch sehr viel mehr Einigkeit“ – Mein Interview mit China.Table

In dieser Woche nehme ich am Transatlantic Legislators Dialogue in Brüssel teil. 

Mit großer Zuneigung erinnere ich mich an Arsenij Roginskij, der am 30. März 78 Jahre alt geworden wäre.